Betreff
Schulabsentismus und Schulpflichtüberwachung
Vorlage
2012/165
Art
Mitteilung

Obwohl kein neues Problem, ist das Thema Schulversäumnisse und Schulpflichtverletzungen in allen europäischen Ländern seit etwa 10 Jahren in den Fokus pädagogischer Debatten getreten und Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen geworden.

 

Zwar existiert in der Fachdiskussion keine einheitliche Definition, es besteht jedoch Konsens, das unter dem Begriff Schulabsentismus zu unterscheiden ist zwischen (gelegentlichem) Schulschwänzen und Schulverweigerung (vgl. Stamm, Margrit, Schulabsentismus: eine unterschätzte pädagogische Herausforderung, in: Die Deutsche Schule, 99. Jahrgang 2007/Heft 1, S. 51).

 

Während als Schulschwänzen ein unerlaubtes Fernbleiben vom Unterricht an bis zu fünf Tagen pro Jahr bezeichnet wird, geht Schulverweigerung mit emotionalen Verhaltensproblemen und psychogenen oder psychosomatischen Veränderungen bei den Betroffenen einher. Im Ergebnis verschiedener empirischer Studien wird davon ausgegangen, dass das gelegentliche Schulschwänzen eine sehr verbreitete, von fast 50 % der Schülerinnen und Schüler praktizierte Angelegenheit darstellt und „…als entwicklungstypische Form oppositionellen oder autonomiesuchenden Verhaltens angesehen…“ (ebenda, S. 58) wird und eher episodenhaft ist (vgl. Pfeiffer, Christian u. a.: Schülerbefragung 2005: Gewalterfahrungen, Schulabsentismus und Medienkonsum von Kindern und Jugendlichen, Hannover 2006, S. 288). Als Schulverweigerer werden vier bis sieben Prozent der Schülerinnen und Schüler eingestuft, Pfeiffer spricht in seiner Studie sogar von 11 % (mehr als fünf Fehltage im Jahr). Dabei gibt es keine signifikanten geschlechtsspezifischen Unterschiede, allerdings nimmt die Häufigkeit mit zunehmendem Alter in allen Schulformen zu und ist auch abhängig von der besuchten Schulform (vgl. Stamm, Margrit: a.a.O., S. 54).

 

Der Kriminologe Christian Pfeiffer kommt in einer vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen 2005 durchgeführten Repräsentativbefragung darüber hinaus zu dem Ergebnis, das Nicht-deutsche Jugendliche bei der Mehrfachschwänzrate eine Spitzenposition einnehmen und fast 31 % der Jugendlichen, „…die mehr als zehn Tage unerlaubt dem Unterricht ferngeblieben sind, keinerlei Reaktion erfahren“ haben (Pfeiffer, Christian u. a.: a.a.O., S. 288). Die vorgenannten Ergebnisse werden, bezogen auf die Stadt Laatzen, durch die statistischen Daten für die Jahre 2010 und 2011 grundsätzlich bestätigt. Deutlich wird vor allem, dass Absentismus insbesondere ein Problem der berufsbildenden Schulen ist. Weit über die Hälfte der Anzeigen und der Fehltage entfällt auf den Personenkreis der Berufsschülerinnen und Berufsschüler.

 

Fehlzeitenstatistik 2010/2011

2010

2011

2010

2011

Schulform

Anzeigen

Anzeigen

Fehltage

Fehltage

Grundschulen

2

3

30

76

Hauptschulen

12

10

358

356

Realschulen

23

17

478

300

Gymnasien

0

2

0

40

Förderschulen

10

7

185

119

Berufsschulen

59

55

1.324

1.394

insgesamt

106

94

2.375

2.285

Anzeigen insgesamt

106

94

davon weiblich

33

42

davon männlich

73

52

verteilt auf Schüler

54

62

davon mit mehr als 5 Fehltagen

54

59

 

 

 

Migrationshintergrund

29

35

weiblich

10

18

männlich

19

17

 

 

 

aus Haushalten von Alleinerziehenden

62

41

Kinder unter 14 Jahre

15

15

Dauerschwänzer (50 und mehr Fehltage)

3

4

Anzeigen

16

9

Fehltage

446

484

Anteil an allen Fehltagen in Prozent

18,8 %

21,2 %

Anhörungen

148

124

Bußgeldbescheide

106

97

Abgabe an Jugendgericht

54

52

Abgabe an Amtsgericht

0

2

Festgesetze Bußgelder

29.148,95 €

27.847,03 €

gezahlte Bußgelder

8.656,88 €

14.457,95 €

 

Zu den häufigsten Motiven für das Schulschwänzen zählen die Vermeidung von Leistungskontrollen, die Ablehnung der Schule als Ganzes, Konflikte mit Lehrpersonen oder Gewalterfahrungen durch Mitschülerinnen und Mitschüler (vgl. Stamm, Margrit: a.a.O., S. 51).

 

Entstehungsursache für  Schulabsentismus ist ein Bedingungskomplex der sich aus den Komponenten individueller Schüler‑ und Familienmerkmale wie z. B. geringes elterliches Monitoring, inkonsistente Erziehungsstile und innerfamiliäre Gewalterfahrungen, aber auch aus den Mechanismen des schulischen Alltags und der Schulqualität sowie dem Schulklima zusammensetzt (vgl. ebenda S. 52).

 

Die Folgen sind schwierige soziale Integration, schlechte Schulleistungen, Schulausschluss und infolge dessen Gefährdung der Bildungsabschlüsse, erschwerter Berufseinstieg und ein erhöhtes Risiko zu delinquentem Verhalten, wie insbesondere durch Studien in den USA belegt wurde (vgl. ebenda S. 50). Das erhöhte Delinquenzrisiko im Falle früh einsetzender und massiver Fehlzeiten bestätigt auch Pfeiffer in seiner Untersuchung.

 

Ausgehend von der Feststellung, dass das Schulklima Einfluss auf das Verhalten der Schülerinnen und Schüler bzw. die Entstehung von Absentismus fördern oder verhindern kann, fordert der Erziehungswissenschaftler Dr. Heinrich Ricking die Entwicklung nutzbarer schulischer Präventionskonzepte. Ziel müsse es sein „…die Fähigkeit der Schulen zu stärken, den Schülern einen Lern‑ und Lebensraum zu bieten, der einladend und anregend ist, intensive Beziehungen zwischen Schülern und Lehrern zulässt und auch auf Schüler, die bereits randständige Positionen einnehmen integrierend wirkt“ (Ricking, Heinrich: Bausteine der schulischen Prävention und frühen Intervention bei Schulabsentismus, in: K. Popp und B. Seebach(Hrsg.) „Null Bock auf Schule“ ‑ Was ist zu tun bei Schulverweigerung?, Würzburg 2007, S. 87). Vor diesem Hintergrund hat er ein aus zehn Bausteinen bestehendes Konzept der schulischen Prävention und frühen Intervention entwickelt:

 

Ebene

Baustein

Schule

1.    Pädagogische Perspektive und offene Haltung (z. B. keine Tabuisierung, Kenntnisstand erhöhen, Experte im Kollegium)

2.    Fehlzeiten wahrnehmen und registrieren

3.    Sicherheit in Klasse und Schule (z. B. Mobbing erkennen)

4.    Soziales Lernen fördern

Klasse

5.    Lehrer-Schüler-Beziehung (z. B. Wertschätzung, konkrete Hilfe zur Konfliktbewältigung und Lebensgestaltung anbieten)

6.    Lernen fördern (z. B. Lernerfolge schaffen, Selbstwirksamkeit stärken)

7.    Kontakt halten (z. B. unmittelbare Reaktion zeigen, Interesse zeigen, Feedback geben, auf frühe Verhaltenstendenzen achten)

8.    Förderung der Selbstregulation (z. B. Positive Verstärkung, Verhaltensverträge, Rückmeldesysteme)

System

9.    Kooperation mit Eltern (z. B. positive Elternkontakte aufbauen und regelmäßig pflegen)

10.  Netzwerk der Hilfen (z. B. Jugendamt/ -hilfe, Erziehungsberatung, therapeutische Einrichtungen, alternative Beschulungsprojekte)

 

(vgl. Ricking, Heinrich: ebenda, S. 90 ff.)

 

Ansetzend an der Schnittstelle Schule – Kinder‑ und Jugendhilfe (Baustein 10), gibt es in Laatzen seit einigen Jahren ein abgestimmtes System zum Umgang mit Schulabsentismus. Neben den zumeist vorgeschalteten internen Regelungen der Laatzener Schulen ist ein Kernpunkt die rasche Reaktion in Form der Benachrichtigung der für die Bearbeitung der Schulpflichtverletzungen zuständigen Stelle. Seit Ende 2009 wird diese Aufgabe im Team Kinder, Jugend, Familie, Senioren und Soziale Sicherung wahrgenommen. Hierdurch ist vor allem ein kurzer Abstimmungsprozess mit der Kinder‑ und Jugendhilfe zur Einleitung möglicher Hilfs‑ und Unterstützungsangebote gewährleistet. Die weitere Vorgehensweise wird im Folgenden beschrieben:

 

Schulabsentismus:

 

Die Schulen zeigen die Verletzung der Schulpflicht gemäß § 176 Niedersächsisches Schulgesetz in Verbindung mit dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (OWiG) bei der Stadt Laatzen an.

 

Aufgrund der Anzeige werden Anhörungen an den Schüler bzw. die Schülerin und die Personensorgeberechtigten verschickt. Diese haben die Möglichkeit, sich zu der Ordnungswidrigkeit zu äußern. Hierbei ist zu beachten, dass Schülerinnen und Schüler die das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, nicht angehört oder bebußt werden können, da Kinder unter 14 Jahren nicht vorwerfbar handeln können. § 12 OWIG schließt die Ahndung mit einer Geldbuße für diesen Personenkreis aus. Die Kinder‑ und Jugendhilfe erhält von der Anhörung eine Durchschrift.

 

Nach Ablauf der Anhörungsfrist wird, sofern keine Belege von den Betroffenen erbracht werden (ärztliche Atteste), ein Bußgeldbescheid erlassen. Das Bußgeld für Schüler beträgt je Fehltag 5,00 € und ab dem 20. Fehltag 10 €. Für die Personensorgeberechtigten beträgt es je Fehltag 2,50 € und ab dem 20. Fehltag 5,00 €. Bei einer eigenmächtigen Ferienverlängerung beträgt das Bußgeld bis 3 Fehltage 25,00 €/Tag, 50,00 €/Tag für 4 ‑ 6 Tage und 75,00 € für 6 ‑ 8 Tage. Ab dem 9. Fehltag ist die Bußgeldhöhe eine Einzelfallentscheidung, hiervon musste bisher jedoch noch kein Gebrauch gemacht werden. Die Kinder‑ und Jugendhilfe sowie die Schulen erhalten vom Bußgeldbescheid eine Durchschrift.

 

Bei Familien, die bereits von der Kinder‑ und Jugendhilfe betreut werden, wird vor Erlass des Bußgeldbescheides nachgefragt, ob die Eltern für die Handlungen der Kinder mitverantwortlich sind oder ein Bußgeld die familiäre Situation verschlimmern würde.

 

Sofern der Bußgeldbescheid bestandskräftig geworden ist und das Bußgeld nicht bezahlt wurde, wird der Vorgang an das zuständige Jugendgericht abgegeben. Dieses hat die Möglichkeit, das Bußgeld in Sozialstunden umzuwandeln (§ 98 OWIG). Sofern dies geschieht weist die Jugendgerichtshilfe den Schülern Einsatzstellen zu. Sofern die Jugendlichen der Anordnung nicht nachkommen und auch die Geldbuße nicht bezahlen, kann Jugendarrest verhängt werden. Dies wird in der Praxis von den Jugendgerichten auch durchgeführt. Im Fall der Personensorgeberechtigten werden offene Bußgelder über 100 € an das Amtsgericht abgegeben. Dieses hat die Möglichkeit Erzwingungshaft anzuordnen. Sofern das Bußgeld unter 100 € liegt, wird die Beitreibung der Forderung zunächst über die Vollstreckungsstelle versucht. Sofern Anträge auf Ratenzahlungen vorliegen, werden die Anträge bei den Gerichten nach Eingang der ersten Rate zurückgenommen. Sofern eine Ratenzahlung dann widerrufen wird, werden die Vorgänge wieder an das Jugend‑ bzw. Amtsgericht abgegeben.

 

Zwangsweise Zuführung von schulpflichtigen Schülern zur Schule:

 

Gemäß § 4 Nr. 3 der Verordnung für die Zuständigkeiten auf verschiedenen Gebieten der Gefahrenabwehr (ZustVO‑SOG) vom 18.10.1994 sind die Landkreise, kreisfreien Städte, großen selbständigen Städte und selbständige Gemeinden als Ordnungsbehörden für die Zuführung Schulpflichtiger zur Schule zuständig und haben hierfür Vollzugsbeamte zu bestellen. Eine andere Form der zwangsweisen Zuführung zur Schule, z. B. durch eine den Schulen geleistete Amtshilfe der Polizei oder durch Lehrkräfte, ist nicht zulässig. In Laatzen nimmt die Aufgabe der für den Jugendschutz zuständige Mitarbeiter wahr.

 

Voraussetzung ist das Vorliegen einer Anzeige wegen Verletzung der Schulpflicht und eines bestandskräftigen Bußgeldbescheids. Stellt die Schulleitung fest, dass der Schüler bzw. die Schülerin weiterhin dauerhaft der Schule fernbleibt, kann sie bei der Stadt die zwangsweise Zuführung des Schülers bzw. der Schülerin zur Schule beantragen. (Inhalt des formlosen Antrages: Name, Straße, Wohnort, Geburtsdatum, Fehltage, Anzeigendatum, Bußgeldbescheiddatum).

 

Die Vollzugsperson erlässt dann eine Verfügung mit einer Frist zur Äußerung für die Anordnung einer sofortigen Vollziehung, d. h. der Widerspruch hat keine aufschiebende Wirkung. Die Verfügung wird den Schülern, wenn er oder sie das 14. Lebensjahr bereits vollendet hat, zugestellt, ansonsten den Personensorgeberechtigten.

 

Nimmt der Schüler bzw. die Schülerin nach Ablauf der Frist weiterhin nicht regelmäßig am Unterricht teil, erfolgt durch den Vollzugsbeamten der Versuch, den Schüler bzw. die Schülerin von der Wohnung abzuholen und ihn oder sie zur Schule zu bringen. Sofern der oder die Betroffene sich weigert oder nicht geöffnet wird, kann der Vollzugsbeamte jedoch nicht anderweitig tätig werden, da er keine richterliche Verfügung hat.

 

Schulpflichtüberwachung:

 

Die Stadt Laatzen überwacht seit Anfang des Jahres 2011 aktiv die Schulpflicht von neu zugezogenen Schülern in das Stadtgebiet. Einmal monatlich werden die auf Zuzugslisten erfassten Schüler angeschrieben und um die Vorlage einer Bescheinigung von der aktuell besuchten Schule gebeten. Sofern die Familie nicht auf das erste Schreiben reagiert, erfolgt eine Erinnerung. Erfolgt auch hierauf keine Rückmeldung, so wird die Familie in Form einer Anhörung davon in Kenntnis gesetzt, dass beabsichtigt wird, ein Bußgeldbescheid einzuleiten, da davon ausgegangen werden muss, dass das Kind zurzeit keine Schule besucht. In der Praxis haben die Familien bislang spätestens bei Erhalt der Anhörung einen Schulnachweis erbracht, sodass bisher noch kein Bußgeldbescheid im Bereich Schulpflichtüberwachung erlassen werden musste.

 

Im Kalenderjahr 2010 wurden Bußgelder in Höhe von 29.149 Euro festgesetzt, gezahlt wurden 8.657 Euro. Im Kalenderjahr 2011 sind Bußgeldzahlungen in Höhe von 27.847 Euro festgesetzt worden, eingegangen sind 14.458 Euro. Das von der Stadt entwickelte Verfahren zur Vorgehensweise hat dazu geführt, dass dies mittlerweile auch von anderen regionsangehörigen Kommunen praktiziert und damit möglichst frühzeitig und konsequent gegen Schulabsentismus vorgegangen wird, um deutlich zu machen, dass es sich hierbei nicht um ein Kavaliersdelikt handelt.

 

Es muss allerdings an dieser Stelle ausdrücklich klargestellt werden, dass es nicht um das Erzielen möglichst hoher Einnahmen aus Bußgeldern geht. Vielmehr ist durch den strukturierten Ablaufprozess beabsichtigt, mögliche Gefährdungspotentiale frühzeitig zu erkennen, um  so gezielt konkrete Hilfs‑ und Unterstützungsmaßnahmen, z. B. in Form erzieherischer Hilfen nach dem Kinder‑ und Jugendhilfegesetz, anbieten und einleiten zu können. Hierfür ist eine enge Zusammenarbeit aller Beteiligten und ein schnelles Reagieren der Schulen bei Fehlzeiten erforderlich.

 

Im Auftrag

 

 

 

Thomas Schrader