Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 09.02.2010)
Im Rahmen der Mitteilung Zukünftige Förderung von Schulspeisung und Schulfonds (Drucksache 189/2008) sowie in der Mitteilung zum Antrag des Arbeitskreises Sport auf Kostenübernahme von Vereinsbeiträgen für sozial schwache Kinder und Jugendliche (Drucksache 218/2009/1) wurde ausgeführt, dass der Bund von der Gesetzgebungsbefugnis die öffentliche Fürsorge zu regeln, umfassend Gebrauch gemacht hat und eine Kommune daher keine Kompetenz hat, ergänzend hierzu Regelungen zu treffen.
In seinem Urteil vom 09.02.2010 hat das Bundesverfassungsgericht diese Auffassung bestätigt:
Durch den Erlass des Sozialgesetzbuchs Zweites Buch hat der Bundesgesetzgeber von der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz in Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG abschließend Gebrauch gemacht. […] Der Bund trägt dementsprechend die Verantwortung für die Sicherstellung des gesamten menschenwürdigen Existenzminimums. […]
Die Länder haben ihre Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen zu finanzieren. Aus Art. 104a Abs. 1 GG folgt aber keine fürsorgerechtliche Pflicht, hilfebedürftige Personen, die Schulen besuchen und sonstige Bildungseinrichtungen benutzen, mit den dafür notwendigen finanziellen Mitteln auszustatten. […]
Wesentliches Ergebnis dieser Bundesverfassungsgerichtsentscheidung ist, dass das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums jeder und jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen sichert, die für ihre bzw. seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind. Ob der Bund das Existenzminimum durch Geld-, Sach- oder Dienstleistungen sichert, bleibt grundsätzlich ihm überlassen.
Bezüglich der Sicherung des Existenzminimums von Kindern führt das Bundesverfassungsgericht aus:
Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Ihr Bedarf, der zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums gedeckt werden muss, hat sich an kindlichen Entwicklungsphasen auszurichten und an dem, was für die Persönlichkeitsentfaltung eines Kindes erforderlich ist. […]
Ein zusätzlicher Bedarf ist vor allem bei schulpflichtigen Kindern zu erwarten. Notwendige Aufwendungen zur Erfüllung schulischer Pflichten gehören zu ihrem existentiellen Bedarf. Ohne Deckung dieser Kosten droht hilfebedürftigen Kindern der Ausschluss von Lebenschancen, weil sie ohne den Erwerb der notwendigen Schulmaterialien, wie Schulbücher, Schulhefte oder Taschenrechner, die Schule nicht erfolgreich besuchen können. Bei schulpflichtigen Kindern, deren Eltern Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch beziehen, besteht die Gefahr, dass ohne hinreichende staatliche Leistungen ihre Möglichkeiten eingeschränkt werden, später ihren Lebensunterhalt aus eigenen Kräften bestreiten zu können. Dies ist mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG nicht vereinbar. […]
Vor allem ist ein altersspezifischer Bedarf für Kinder einzustellen, welche die Schule besuchen. Wie bereits ausgeführt macht die Zuständigkeit der Länder für das Schul- und Bildungswesen die fürsorgerechtliche Berücksichtigung dieses Bedarfs nicht entbehrlich. Die Zuständigkeit der Länder betrifft überdies den personellen und sachlichen Aufwand für die Institution Schule und nicht den individuellen Bedarf eines hilfebedürftigen Schülers. Der Bundesgesetzgeber könnte erst dann von der Gewährung entsprechender Leistungen absehen, wenn sie durch landesrechtliche Ansprüche substituiert und hilfebedürftigen Kindern gewährt würden. Dann könnte eine einrichtungsbezogene Gewährung von Leistungen durch die Länder, zum Beispiel durch Übernahme der Kosten für die Beschaffung von Lernmitteln oder durch ein kostenloses Angebot von Nachhilfeunterricht, durchaus ein sinnvolles Konzept jugendnaher Hilfeleistung darstellen, das gewährleistet, dass der tatsächliche Bedarf gedeckt wird. Solange und soweit dies jedoch nicht der Fall ist, hat der Bundesgesetzgeber, der mit dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch ein Leistungssystem schaffen wollte, welches das Existenzminimum vollständig gewährleistet, dafür Sorge zu tragen, dass mit dem Sozialgeld dieser zusätzliche Bedarf eines Schulkindes hinreichend abgedeckt ist. […]
In Vertretung
Arne Schneider